"Cannabis ist keine Einstiegsdroge"

"Cannabis ist keine Einstiegsdroge"

Eine Familie weiß nicht mehr weiter: Der drogenabhängige Sohn ist aus der Betreuung entlassen worden, weil er jede Kooperation verweigert. Die Mutter wendet sich an die Öffentlichkeit. Wir haben mit Experten der LVR-Klinik Viersen geredet.

Die Mutter möchte den Sohn einweisen lassen, um ihn vor sich selbst zu schützen — was so nachvollziehbar klingt, bringt Mediziner in eine Klemme; wie sieht die aus?

Dr. Tarik Ugur
Dr. Tarik Ugur Foto: LVR-Klinik Viersen

Dr. Ugur: Vorausgesetzt der Sohn ist volljährig, ist eine "Einweisung" gegen den Willen des Betroffenen nur zulässig, wenn eine konkrete Gefahr dadurch abgewendet wird, z.B. eine bevorstehende Selbsttötung oder Fremdgefährdung. In diesen Fällen spricht man von einer Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik. Eine abstrakte Gefahr, dass z.B. ein Mensch durch den fortgesetzten Drogenkonsum seiner Gesundheit nachhaltigen Schaden zufügt und möglicherweise infolge dieses Schadens früher verstirbt, als ohne Drogenkonsum, ist nicht ausreichend um einen Menschen zwangsweise in eine Klinik zu bringen. Das Gesetz sieht vor, dass die Unterbringung in jedem Fall durch einen Richter geprüft und entschieden wird. Dieser wägt die vorliegenden Gründe für und gegen eine freiheitsentziehende Behandlung ab und ordnet an. Die Rolle der Ärzte beschränkt sich darauf, eine fachliche Einschätzung der Befundlage zu treffen und diese dem Gericht zur Verfügung zu stellen sowie dem Betroffenen Behandlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und ihn zu einer Therapie zu motivieren.

In unserem Artikel haben wir den Lebenslauf eines Patienten nachgezeichnet, der mit Cannabis-Rauchen angefangen hat; wie ist der wissenschaftliche Stand in der Frage der Einstiegsdroge?

Dr. Marggraf: Es ist der wissenschaftliche Erkenntnisstand, dass Cannabis nicht als Einstiegsdroge in dem Sinne zu werten ist, dass durch den Cannabiskonsum der Konsum anderer Drogen automatisch oder mit hoher Wahrscheinlichkeit folgt. Nach meiner Kenntnis geht aus entsprechenden Studien hervor, dass nur 2 bis 5 Prozent der Cannabiskonsumenten später harte Drogen nehmen.

In der weltweiten Drogen-Diskussion wird jetzt öfter die Frage gestellt, ob man Abhängige nicht ausschließlich als Kranke betrachten soll, denen der Staat kontrolliert Drogen verabreichen soll; wie stehen Sie dazu?

Dr. Ugur: Abhängigkeit oder genauer die Abhängigkeiten sind in dem Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation, der International Classification of Diseases (kurz ICD-10), sowie auch in dem amerikanischen Klassifikationssystem der DSM-V als psychische Störungen ausgewiesen. Wie man diese therapieren sollte, hängt vom Einzelfall, seiner Prognose und Begleitfaktoren ab. Ob eine Entgiftung und anschließende Rehabilitation oder eine Drogensubstitutionsbehandlung langfristig die beste Lebensqualität für den abhängig Erkrankten mit sich bringt, ist individuell verschieden. Auch müssen Risiken einer Substitution, z.B. mit Methadon, berücksichtigt werden. Hierzu gehören Nebenwirkungen, wie Reizleitungsstörungen am Herzen aber auch Wechselwirkungen mit anderen unverzichtbaren Medikamenten oder ein wahrscheinlicher Beigebrauch anderer Drogen. Dieser würde das Risiko einer Vergiftung durch das Mischen verschiedener Drogen mit sich bringen.

  • von Dr. med.
Ingo Spitczok 
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Drogen-Lebensläufe sind nicht selten; nehmen sie zu, ab oder ändert sich das Level nur unwesentlich?

Dr. Ugur: Beides ist richtig. Es ändern sich über größere Zeiträume bevorzugte Drogen, es kommen neue Drogen hinzu (Legal Highs), andere kommen etwas aus der Mode. Gesellschaftliche Veränderungen eröffnen neue Gruppen von Konsumenten. Was bleibt ist, dass Drogenkonsum und —abhängigkeit auch zukünftig eine medizinische und suchttherapeutische Herausforderung bleiben.

Dr. Marggraf: Eine wesentliche quantitative Änderung ist nicht zu erkennen. Aktuell in den Medien verbreitet wurde der Anstieg der Zahl der Drogentoten in den vergangenen zwei Jahren. Auch ist festzustellen, dass es eine qualitative Verschiebung gibt. Heute werden andere Drogen konsumiert als früher. Den "reinen" Heroinabhängigen gibt es nicht mehr, in der Regel findet ein Mischkonsum statt (Polytoxikomanie) und Neueinsteiger in den harten Drogenkonsum bevorzugen heute eher Amphetamine als Heroin.


Welche Angebote und Projekte des LVR müssten in diesem Zusammenhang mehr Bekanntheit erlangen?

Dr. Marggraf: Die LVR-Klinik Viersen macht stationär qualifizierte Drogenentzugsangebote. Im Rahmen einer solchen Behandlung geht es neben der körperlichen Entzugsbehandlung und der medizinischen Erkennung und Behandlung von Folge- und Begleiterkrankungen (beispielsweise Hepatitis C bei intravenösem Drogenkonsum) vor allem auch darum, sozialtherapeutische und psychotherapeutische Angebote zu machen und die Motivation des Betroffenen/ der Betroffenen für weitergehende Behandlungsmöglichkeiten (wie etwa der Drogenentwöhnung) zu erhöhen. Darüber hinaus werden im Rahmen der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) spezielle Angebote gemacht; unter anderem gibt es für Cannabisabhängige ein intensives gruppenbezogenes Angebot.

Beantwortet wurden die Fragen von

Dr. Ralph Marggraf, Ärztlicher Direktor der LVR-Klinik Viersen

Dr. Tarik Ugur, Chefarzt der Abteilung II der Allgemeinpsychiatrie der LVR-Klinik Viersen